Festrede 1912
Ansprache
des Gymnasialrektors Dr. Leonhard Dittmeyer zum 50. Gründungsjubiläum des Bischöflichen Knabenseminars
(Festdiner im Priesterseminar am Dienstag, 16. Juli 1912)
aus: Fest-Bericht über die Feier des 50jähr. Bestehens des Bischöfl. Knabenseminars Dillingen a. D. 1912
Hochansehnliche Festversammlung!Das Alte stürzt, es ändern sich die Zeiten
Und neues Leben blüht aus den Ruinen.
An diese Worte wird man erinnert, wenn man einen Blick in die Geschichte des hies. Gymnasiums wirft. 1649 von dem tatkräftigen Fürstbischof Otto Truchseß v. Waldburg gegründet, hat es alle Stürme der Zeit glücklich überstanden: die Reformation, den alles verheerenden 30jährigen Krieg und die Säkularisation. Doch der Zahn der Zeit nagt an allem. Und so war denn vor ungefähr 60 Jahren das Gymnasium dem Verfalle nahe. Da war es ein glücklicher Zufall, daß damals der hochselige Bischof Pankratius ein Knabenseminar ins Leben zu rufen beschloß. Es war für das Gymnasium Dillingen auch die höchste Zeit. Denn um Ihnen nur ein paar Zahlen vorzutragen: im Jahre 1859/60 hatte das Gymnasium nur 92 Schüler, 1860/61 102, 1861/62 109. Es war wohl ein schlechter, unzulänglicher Trost für den Rektor des Gymnasiums, daß auch das Lyzeum 1860/61 ganze 24 Kandidaten in beiden Sektionen[S. 22]aufzuweisen hatte. So ist es denn gar wohl zu begreifen, daß der damalige Rektor Pleitner alle Hebel in Bewegung setzte, um den hochseligen Bischof Pankratius von Dinkel zu bestimmen, daß das neue Seminar doch in Dillingen errichtet werde. Und unterstützt von dem damaligen Lyzealrektor Dr. Franz Pollak hatte er Erfolg. Von nun an hob sich die Frequenz des Gymnasiums. Es hatte beispielsweise 1907-08 525 Schüler, 1910 58 Abturienten [sic!], die zweithöchste Zahl unter allen 48 Gymnasien in Bayern. (Beifall.) In den letzten Jahren ist die Frequenz an allen bayerischen und deutschen Gymnasien etwas zurückgegangen, bedauerlich wohl für die hiesige Anstalt, aber vielleicht segensreich für das allgemeineWohl [sic!] (Heiterkeit). Bei diesem Sachverhalt ist es selstverständlich [sic!], daß das Verhältnis zwischen dem alten Gymnasium und dem neu erstandenen Seminar von vornherein ein freundliches sein muß. Hat doch die neuerstandene Schöpfung sozusagen dem alternden Gymnasium das Leben gerettet. Und freundlich blieb auch das Verhältnis unter den folgenden Rektoren, unter Faber usw. (Bravo!) Auf einen anderen Umstand muß ich auch hinweisen, der ebenfalls ein freundliches Verhältnis zwischen den beiden Schwesteranstalten anknüpft. Wir haben hier ein Schülermaterial, das an anderen Gymnasien nicht homogener sein kann. Abgesehen von nur einigen Beamten- und Offizierssöhnen gehört die weitaus meiste Anzahl Handwerkerfamilien an. Und wenn der Herbst kommt, da ziehen die Büblein vom Kochelsee bis Hindelang, von Füssen bis Scheidegg, von dem Lauf der Alpenflüsse bis zur Donau und darüber hinaus bis in das Gebiet von Oettingen und Wallerstein nach Dillingen und nahezu alle in der Absicht, um in das Knabenseminar aufgenommen zu werden oder um wenigstens geduldig zu warten, bis sich die Pforten desselben für sie öffnen. So ist also die Konnexion zwischen Knabenseminar und Gymnasium eine durchaus freundliche, das Verhältnis ein gutes, ich möchte fast sagen, ein ideales (lebhafter Beifall). Die Schüler, die Zöglinge des Knabenseminars, besuchen nicht nur den obligaten Unterricht am Gymnasium, sondern auch alle fakultativen Fächer. Sie nehmen Anteil an den gemeinsamen Klassenspaziergängen. Wenn die Stadtschüler eine kleine Unterhaltung haben, dann dürfen auch die Zöglinge des Seminars diesen Unterhaltungen beiwohnen [S. 23]und schon lange vorher freuen sich die Stadtschüler insgesamt, wenn sie bei den kleinen Festlichkeiten und Unterhaltungen des Knabenseminars als gern gesehene Gäste Zutritt haben zu diesen Festen. Und ein Rektor hier kann es gar nicht hoch genug anschlagen, wie die wohlerzogenen Knabenseminaristen durch ihren Verkehr mit den Stadtschülern großen Segen verbreiten und wie sie außerordentlich günstig auf die Erziehung der Stadtschüler einwirken. (Beifall). Ihr Beifall ist mir ein Zeugnis, daß Sie auch über das herrliche Verhältnis zwischen beiden Anstalten erfreut sind. So darf ich wohl an alle hochw. Herrn in dieser Stunde die ergebenste Bitte richten: Schicken Sie uns doch im Herbste recht viele Knaben hierher nach Dillingen, sie mögen arm oder reich sein, wenn sie nur fleißig und brav und begabt sind, damit auch wir hier in dem stillen, weltentrückten Städtchen Dillingen im Herbste ein fröhliches Erntefest halten können (Heiterkeit). Doch „das Alte stürzt, es ändern sich die Zeiten“. Mit ehernem Tritt wird die Zeit auch über die jetzigen Vorstände, Lehrer und Erzieher der beiden Anstalten hinwegschreiten und über kurz oder lang, werden wir gewesen sein. Und so möchte ich an die hochverehrten Herrn noch einen kurzen Wunsch richten und ich glaube, Sie stimmen mit mir überein: Möge das schöne Einvernehmen, das von jeher zwischen beiden Anstalten geherrscht hat, auch in fernster Zukunft das gleich freundliche und herzliche sein, wie es bisher zur Stunde gewesen ist. Und so glaube ich denn, ein freundliches Echo zu finden, wenn ich die hochverehrten Herren einlade, das Glas zu ergreifen und mit mir einzustimmen in den Ruf: das Einvernehmen, das herzliche, zwischen den beiden Anstalten, Knabenseminar und Gymnasium, es lebe hoch, hoch, hoch!
Brausendes Hochrufen lohnte die begeisterten Worte des Redners, die H. Inspektor Funk folgendermaßen erwiderte:Meine sehr verehrten Festgäste!
Liebe Mitzöglinge!In sehr schmeichelhaften, liebenswürdigen Worten hat Herr Rektor Dittmeyer das Einvernehmen zwischen Gymnasium und Knabenseminar behandelt. Ich danke herzlich für diese Worte und gebe die Versicherung: Das alte Einvernehmen zwischen den beiden Anstalten soll fortbestehen, solange es ein[S. 24]Knabenseminar gibt; denn das kgl. Gymnasium in Dillingen gibt täglich Beweise seines Wohlwollens gegen das Seminar. Wenn der Herr Festprediger heute gesprochen hat von bonitas, scientia, und disciplina, so dürfen wir sagen, daß wir die ersten beiden getreulich miteinander erstreben, während das letztere das Gymnasium vorzüglich allein übernimmt. Vertrauensvoll schicken wir unsere Zöglinge an das Gymnasium hinüber und wir wissen, daß sie reichbeladen mit Schätzen zurückkehren, wenn nicht an einem Tage, so doch an vielen Tagen und in neun Jahren. Kann es, fragen wir uns, eine herrlichere Bildung geben, als die humanistische? Meine sehr verehrten Herrn! Bei diesem Bildungsgang werden die Kreise immer enger und konzentrieren sich immer mehr um jenen Punkt um jenes Zentrum, das da ist Christus. Die damalige Zeit, welche da war „die Fülle der Zeit“ ist mit ihren vielen Verschlingungen ein Bild jeder nachfolgenden Zeit. Der kleine Student vermag ja diese Beziehungen noch nicht zu erkennen; denn der Weg zu dieser Erkenntnis führt über hohe und steile Pässe. Je reifer und weiser der Mann wird, d. i. je höher er die Pässe des Lebens emporklimmt, wird er immer mehr den Zusammenhang verstehen zwischen der klassischen Bildung und dem, was heute der Welt not tut; denn die heutige Menschheit ist von der damaligen nicht spezifisch verschieden. Leben und fehlen, leiden und hoffen ist den Menschen aller Zeiten gemeinsam. Die humanistische Bildung hat uns die großen Geistesmänner gegeben, als nach den schweren Zeiten der Völkerwanderung die Studien wieder auflebten: Petrus Lombardus, Albertus von Lauingen, Dun Skotus, Thomas von Aquin, Bonaventura, Dante — sie haben alle aus den gleichen Büchern und Schriften gelernt wie wir. Ist die heutige Zeit nicht zu bezeichnen als eine Stunde jenes Tages, wo z. Z. der höchsten Blüte griechischer und römischer Kultur esMittag [sic!] ward in der Weltgeschichte. Wir dürfen getrost sein: Der Tag nimmt kein Ende. Schon einmal war es, wo sich Nacht verbreitete über ganz Europa, im 6. und 6. Jahrhundert. Aber über Italien und einen Teil Deutschlands ist das Tageslicht nicht untergegangen. Und so möge es bleiben und wir wollen uns glücklich schätzen, eingeführt zu werden in diese vielfachen Kenntnisse und Beziehungen, die das klassische Altertum in der huma-[S. 25]nistischen Bildung bietet. Dankbar wollen wir sein allen Lehrern und Vorständen des humanistischen Gymnasiums. Ich glaube darum, im Sinne aller meiner lieben Zöglinge zu handeln, wenn ich Sie bitte und auffordere, mit mir das Glas zu ergreifen und zu sprechen: „Das Gymnasium Dillingen lebe hoch, hoch, hoch!“